Dr. Stefan Lang am 20. November 2017

Wissenschaftliches Fehlverhalten – die Spitze des Eisbergs?


Kategorie Schreib- und Publikationsprozess

In regelmäßigen Abständen poppen in den Medien Berichte über wissenschaftliches Fehlverhalten auf. Meist dreht es sich um Plagiarismus oder Fälschung. Schnell werden Kommissionen zur Aufklärung dieser „Einzelfälle“ eingesetzt – um dann bald wieder zum Universitätsalltag zurückzukehren. Das grundlegende Problem wird jedoch ignoriert.

Einzelfälle oder die Spitze des Eisbergs?

Sind es wirklich Einzelfälle? Oder ist wissenschaftliches Fehlverhalten ein eher universelles Problem? Für die Einzelfall-These spricht die Tatsache, dass das US Office of Research Integrity (ORI) lediglich 10 bis 12 solcher Fälle pro Jahr verfolgt [1, 2].

Es gibt jedoch Studien, die eine ganz andere Sprache sprechen:

  • Ein Review [3] über 2.047 Life-Science-Publikationen, die von PubMed bis Mai 2012 als ‚retracted‘ (von der Veröffentlichung zurückgezogen) gelistet wurden, ergab als Grund der Retraction: Betrug oder mutmaßlicher Betrug (43,4%), Duplikation (erneute Publikation identischer Daten; 14,2%), Plagiarismus (9,8%); kleinere und ‚verzeihbare‘ Fehler lagen bei insgesamt 21,3%.
  • Laut einer Meta-Analyse [4] von 18 anonymisierten Umfragen, haben 1,97% (95%CI: 0.86–4.45) der befragten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zugegeben, wenigstens einmal Daten erfunden, verfälscht oder sonst wie unrechtmäßig modifiziert zu haben.

Wissenschaftliches Fehlverhalten – die offizielle Statistik

Warum von dieser großen Zahl mutmaßlicher Fälle nur so wenige in der offiziellen Statistik auftauchen, erklärt vielleicht der folgende Befund:

Etwa 80% der wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen schrecken davor zurück, Fehlverhalten in der Wissenschaft zu melden – aus Angst vor Ausgrenzung oder Karrierenachteilen [5].

Ist wissenschaftliches Fehlverhalten ein seltenes Phänomen oder kommt es häufig vor?

Was wäre also zu tun?

Forschungseinrichtungen müssen mehr tun, um wissenschaftliches Fehlverhalten zu verhindern:

  • Geschulte Gutachter könnten etwa eingesetzt werden, um randomisierte Kontrollen durchzuführen.
  • Senior-Scientists sollten stärker in die Pflicht genommen werden – sie sollten bereits bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dieses Problem achten (ganz simpel: regelmäßige Sichtung der Rohdaten)
  • Forschungseinrichtungen sollten Whistleblower schützen – und nicht ächten.

Fazit

Scientific Misconduct – ich glaube nicht, dass es sich nur um Einzelfälle handelt. Ich halte es vielmehr für ein weitreichendes Problem, das aus dem Publikationsdruck resultiert, unter dem Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen stehen. Gerade die jungen Forscher fühlen sich ja „verpflichtet“, die Hypothese ihres Chefs zu belegen – auch wenn die Daten das einfach nicht hergeben wollen. Andere werden von ihren Vorgesetzten als billige Arbeitskräfte eingesetzt, die so lange buckeln müssen, bis die gewünschten Resultate vorliegen.

Wie man Misconduct vor diesem Hintergrund verhindern kann? Er darf sich einfach nicht lohnen. Aber nur wenn die Qualität eines Forschers nicht mehr ausschließlich nach der Länge der Publikationsliste beurteilt wird, kann sich hier etwas ändern.

Quellen

[1]. Collins FS, Tabak LA. NIH plans to enhance reproducibility. Nature 505(7485), 612-613 (2014). [2]. US Department of Health and Human Services. Office of Research Integrity Annual Report (2011). [3]. Fang FC, Steen RG, Casadevall A. Misconduct accounts for the majority of retracted scientific publications. Proc Natl Acad Sci U S A 109(42), 17028-17033 (2012). [4]. Fanelli D. How many scientists fabricate and falsify research? A systematic review and meta-analysis of survey data. PLoS One 4(5), e5738 (2009). [5]. Titus SL. Evaluating U.S. medical schools‘ efforts to educate faculty researchers on research integrity and research misconduct policies and procedures. Account Res 21(1), 9-25 (2014).

In der Reihe Scientific Misconducht sind bereits folgende Artikel erschienen: